Das belgische Schadenersatzrecht bei Verkehrsunfällen

[1] R. LENTZ, „Das belgische Schadenersatzrecht bei Verkehrsunfällen“, SVR, 2005, S. 201

INHALTSVERZEICHNIS

1. Die anwaltliche Abwicklung von Verkehrsunfällen in Belgien

1.1 Besonderheiten und richterliches Ermessen

1.2 Die Anwaltskosten

2. Die Anspruchsgrundlagen bei Personen- und Sachschäden

2.1 Art. 1382 des Zivilgesetzbuches (ZGB)

2.2 Der schwache Verkehrsteilnehmer

2.3 Die Gerichtsbarkeit

3. Die Sachschäden

3.1 Der Fahrzeugschaden

3.2 Der Nutzungsausfall des Unfallfahrzeuges

3.3 Die Wertminderung des Fahrzeuges

3.4 Die Mehrwertsteuer (MwSt)

3.5 Die Gutachterkosten

3.6 Die Mietwagenkosten

3.7 Kleidungskosten und beschädigtes Gepäck

3.8 Die Verwaltungskosten

3.9 Die übrigen Unkosten

 

1. Die anwaltliche Abwicklung von Verkehrsunfällen in Belgien

1.1 Besonderheiten und richterliches Ermessen

Auch seit Inkrafttreten der neuen EU-Richtlinien wird der Schadenersatz generell nur nach dem Recht des Unfalllands geleistet, so dass für jeden Unfall in Belgien das belgische Schadenersatzrecht gilt. Der Beitrag soll dem Leser einen Überblick über die möglichen Schadenersatzansprüche in Belgien geben, dh. der Sach- und Personenschäden.

Der zuständige Richter ist immer befugt, für jeden konkreten Fall die Entschädigungen nach freiem richterlichen Ermessen festzulegen. Die Gerichte haben somit einen weiten Ermessenfreiraum und entscheiden von Fall zu Fall über die Höhe der entsprechenden Schadenersatzforderungen.

Als Richtlinie oder Hilfe sowohl für den Geschädigten als auch für die zur Zahlung verpflichteten Versicherungsgesellschaften und die befassten Gerichte wurde in den letzten Jahren durch die Königliche Vereinigung der Friedenssrichter und Polizeirichter und Richter beim Gericht Erster Instanz („L’Union Royale des Juges de Paix et de Police et l’Union Nationale des Magistrats de Première Instance“) eine so genannte „Indikative Tabelle“ („tableau indicatif“) erstellt, die eine richtungsweisende Referenz darstellt. In dem Beitrag wird des Öfteren von dieser indikativen Tabelle die Rede sein, die jedoch nur zur Anwendung kommt, wenn das Opfer nicht in der Lage ist, den eigentlichen Schaden nachzuweisen. Die letzte Anpassung dieser indikativen tabelle wurde am 29.10.2004 in Brüssel vorgestellt.

Angesichts der doch erheblichen Unterschiede zwischen den belgischen und deutschen Rechtsordnungen ist bei der Abwicklung von Schadensfällen nach Unfällen in Belgien eine besondere Kenntnis der belgischen Rechtslage erforderlich, so dass das Einschalten eines belgischen Rechtsanwaltes angeraten wird, zumal die Verfahrenssprache in Belgien meist französisch oder niederländisch ist (nur in der deutschsprachigen Gemeinschaft im Osten des Landes wird deutsch gesprochen). Belgische Rechtsanwälte sind vor allen Gerichten in Belgien zugelassen (mit Ausnahme des Obersten Gerichtshofes).

 

1.2 Die Anwaltskosten

Bekanntlich wurden bisher die Anwaltskosten nicht durch den Unfallverantwortlichen rückerstattet, weder in einer außergerichtlichen Abwicklung eines Schadenfalls noch in einem Gerichtsverfahren. Das Gesetz sieht jedoch eine teilweise Erstattung dieser Kosten vor, in dem die unterliegende Partei verpflichtet ist, bei einem Zvilverfahren vor Gericht der obsiegenden partei eien so genannte Prozesskostenvergütung zu zahlten, die augenblicklich zwischen 58,25 € bei einem Streitwert unter 250,00 € und 349,53 € bei einem Streitwert über 2.500,00 € liegt (bei einem Streitfall vor dem Verkehrsgericht, d.h. dem so genannten Polizeigericht.

Durch seine Entscheidung vom 2.9.2004 hat der Kassationshof (der Oberste Gerichtshof in Belgien) entschieden, dass unter gewissen Umständen die Kosten und Honorare eines Rechtsanwaltes oder eines technischen Beistandes einen Teil des Schadens einer geschädigten Person darstellen können, die somit Anlass zur Erstattung durch die unterliegende Partei geben können. Es handelt sich hierbei um eine isolierte Entscheidung, die sich vorerst nur auf vertragliche Rechtsstreitigkeiten bezieht. Angesichts der Tatsache, dass jedoch seit Jahren über die Schaffung einer Gebührenordnung für Anwälte und einer Rückerstattung der Anwaltshonorare diskutiert wird, ist damit zu rechnen, dass der Oberste Gerichtshof diese Entscheidung auf alle Rechtsstreite ausdehnt. In diesem Zusammenhang bleibt nur zu hoffen, dass kurzfristig der Gesetzgeber eine entsprechende Initiative ergreift und die Rückerstattung der Anwaltshonorare gesetzlich regelt.

 

2. Die Anspruchsgrundlagen bei Personen- und Sachschäden

2.1 Art. 1382 des Zivilgesetzbuches (ZGB)

Jede Person, die durch eine fehlerhafte Handlung einer anderen Person einen Schaden zufügt, ist gemäß Art. 1382 des ZGB entschädigungspflichtig.

Damit die geschädigte Person einen Schadensersatzanspruch erhält, muss der Beweis erbracht werden, dass:

  • Die Gegenpartei einen Fehler begangen hat,
  • einen Schaden entstanden ist,
  • ein ursächlicher Zusammenhang zwischen diesem Fehler und dem

nachgewiesenen Schaden besteht.

Eine geschädigte Person hat somit als klagende Partei die Verpflichtung, sowohl einen Fehler des Gegners als auch den eigenen Schaden nachzuweisen. Die Beweislast liegt bei der klagenden Partei. Es kommt häufig vor, dass das Gericht mangels objektiver Beweisunterlagen nicht in der Lage ist, die Haftungsfrage zu klären und somit der klagenden Partei ihre Schadensersatzansprüche zuzusprechen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass ein Unfallopfer immer Interesse daran hat, die Polizei an den Unfallort zu rufen, damit ein polizeiliches Unfallprotokoll erstellt wird. In jedem Fall soll das Unfallopfer die Gegenpartei auffordern, den Europäischen Unfallbericht auszufüllen. Die Vollständigkeit des Europäischen Unfallberichts ist unter anderem in Bezug auf mögliche Augenzeugen des Unfallgeschehens äußerst wichtig, da im Nachhinein vorgelegte Zeugenaussagen oftmals durch die belgischen Gerichte nicht anerkannt werden.

 

2.2 Der schwache Verkehrsteilnehmer

Die so genannten „schwachen Verkehrsteilnehmer“ oder „schwachen Verkehrsopfer“ werden durch Art. 29 des Gesetzes vom 21.11.1989, abgeändert durch das Gesetz vom 19.1.2001, für gewisse Schäden unabhängig von der Schuldfrage entschädigt. Diese Gesetzgebung bezweckt eine garantierte Entschädigung verschiedener Verkehrsteilnehmer bei Körperschäden und im Todesfall, wie z.B. Beifahrer und Insassen der Fahrzeug, Fußgänger, Fahrradfahrer usw. Wir werden in einem späteren Beitrag ausführlich auf die Schadensersatzansprüche der schwachen Verkehrsteilnehmer zurückkommen.

 

2.3 Die Gerichtsbarkeit

Durch das Gesetz vom 11.1.1994 wird den Polizeigerichten (den Verkehrsgerichten) die ausschließliche Zuständigkeit für alle Schadenersatzforderungen im Rahmen eines Verkehrsunfalls gewährt.

Die insgesamt 32 Polizeigerichte des Landes sind auf die verschiedenen Gerichtsbezirke verteilt und tagen in ihrer jeweiligen Verfahrenssprache, d.h. entweder in niederländisch, französisch oder deutsch.

In Belgien ist das so genannte Adhäsionsverfahren gesetzlich geregelt. Schadenersatzansprüche können somit sowohl im Strafverfahren vor dem Polizeigericht geltend gemacht als auch in einem Zivilverfahren getrennt eingefordert werden.

 

3. Die Sachschäden

3.1 Der Fahrzeugschaden

Obwohl der Oberste Gerichtshof (Kassationshof) durch seinen Entscheid vom 28.2.2002 mittlerweile entschieden hat, dass auch die Gutachterkosten als ein Teil des Schadens dem Unfallopfer zu vergüten sind, weigern sich zahlreiche Versicherungsgesellschaften in Belgien nach wie vor, die Gutachterkosten zu erstatten, zumindest in der außergerichtlichen Schadensabwicklung.

Es ist daher ratsam, vorab lediglich einen Kostenvoranschlag zu erstellen und diesen dann zwecks Regulierung des Fahrzeugschadens an die gegnerische Haftpflichtversicherung zu schicken. Diese hat dann die Möglichkeit, entweder zusätzlich ein Gutachten zu fordern, oder selbst einen Gutachter zu beauftragen. Erfahrungsgemäß fallen die Lohn- und Materialkosten eines deutschen Gutachters höher aus als bei einem belgischen Gutachter, so dass belgische Versicherungsgesellschaften oftmals ein ausländisches Gutachten ablehnen und einen belgischen Gutachter beauftragen, den Umfang des Schadens festzustellen.

Die geschädigte Person ist nicht verpflichtet, das belgische Gutachten anzunehmen, und hat die Möglichkeit, vor Gericht ein Gegengutachten zu beantragen, wobei jedoch der Kostenfaktor eines derartigen Verfahrens zu berücksichtigen ist. Die unterliegende Partei muss nicht nur die Gerichtskosten tragen, sondern auch die Kosten des Gutachters.

Gemäß Art. 83 des Versicherungsgesetzes vom 25.6.1992 hat die geschädigte Partei das recht, uneingeschränkt und frei über die Entschädigungssumme zu verfügen, und hat somit nicht die Verpflichtung, das Fahrzeug auch effektiv in Stand setzen zu lassen.

 

3.2 Der Nutzungsausfall des Unfallfahrzeuges

Sowohl bei außergerichtlichen Schadenersatzregelungen als auch bei gerichtlichen Verfahren wird ein Nutzungsausfall anerkannt für die Dauer der Reparatur des Fahrzeuges, wobei bei außergerichtlichen Regelungen die Versicherungsgesellschaften meistens versuchen, diesen Nutzungsausfall auf einen Mindestsatz zu reduzieren.

Wenn das Fahrzeug nach dem Unfall nicht mehr fahrtüchtig ist, kann zusätzlich eine Entschädigung während der so genannten Wartefrist gefordert werden, d.h. der Frist, die notwendig ist, um den Schaden festzustellen, z.B. bis zur Fertigstellung des Gutachtens. In diesem Zusammenhang darf dem Unfallopfer jedoch keine Verzögerung oder Nachlässigkeit in der Beauftragung des Gutachters nachgewiesen werden. Eine unmittelbare Benachrichtigung der gegnerischen Haftpflichtversicherung ist notwendig.

Bei einem Totalschaden kann ein Nutzungsausfall von pauschal 15 Tagen gefordert werden.

Die Rechtsprechung gewährt im Allgemeinen folgenden Nutzungsausfall pro Tag:

  • PKW, unabhängig vom Fahrzeugtypen, Hubraum usw. 20,00 €
  • Fahrrad 5,00 €
  • Motorrad unter 50 ccm 6,50 €
  • Motorrad über 50 ccm 9,00 €
  • Motorrad über 450 ccm 15,00 €
  • PKW-Anhänger unter 500 kg 10,00 €
  • PKW-Anhänger über 500 kg 15,00 €
  • Wohnmobil 50,00 €
  • Taxi zwischen 46,00 € und 59,50 €
  • Leihwagen 46,00 €
  • LWK, je nach Ladekapazität, zwischen 37,50 € und 46,00 € bis 3 Tonnen Ladekapazität, zzgl. 7,50 € bis 10,00 € pro zusätzlicher Tonne Ladekapazität
  • Wohnwagenanhänger 24,00 €
  • Autobus, je nach Sitzkapazität, zwischen 45,00 € und 174,00 €

 

3.3 Die Wertminderung des Fahrzeuges

Nur vereinzelt gewähren Gerichte Ersatz wegen einer Wertminderung des Unfallfahrzeuges. Außergerichtlich ist es kaum möglich, von den Versicherungsgesellschaften einen Ersatz wegen Wertminderung des Fahrzeuges zu erhalten, selbst wenn das deutsche Gutachten eine derartige Wertminderung nach Reparatur des Fahrzeuges ausdrücklich feststellt.

Wenn überhaupt, gewähren die Gerichte derartigen Ersatz nach erfolgter Reparatur nur bei Neufahrzeugen mit geringer Kilometerleistung.

 

3.4 Die Mehrwertsteuer (MwSt)

Es entspricht mittlerweile einer gefestigten Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes, dass das Unfallopfer stets die Zahlung der MwSt auf die Reparaturkosten oder den Wiederbeschaffungswert des Unfallfahrzeuges fordern kann, unabhängig davon, ob nunmehr das Fahrzeug instand gesetzt wurde oder nicht, bzw. bei einem Totalschaden, ob ein Neufahrzeug oder ein Gebrauchtwagen gekauft wurde oder nicht.

Um die MwSt. fordern zu können, muss der Geschädigte den Nachweis erbringen, dass er der MwSt-Gesetzgebung nicht unterworfen ist, d.h. nicht MwSt-abzugsberechtigt ist. Der MwSt-Satz in Belgien beträgt 21%.

 

3.5 Die Gutachterkosten

Wie bereits erwähnt, hat der Oberste Gerichtshof durch seinen Entscheid vom 28.2.2002 entschieden, dass die Gutachterkosten zu erstatten sind, selbst wenn es sich um ein einseitiges Gutachten des Geschädigten handelt. Die Versicherungsgesellschaften versuchen nach wie vor, diese Rechtsprechung zu ignorieren, so dass eine außergerichtliche Erstattung der Gutachterkosten oftmals noch schwierig ist.

Die Kosten eines Gerichtgutachtens trägt die unterliegende partei, da es sich hierbei um Gerichtskosten handelt.

Die Kosten der gegnerischen Versicherungsgesellschaft bei einem außergerichtlichen Gutachten trägt in jedem Fall die Versicherung selbst. Sie können dem Geschädigten nicht auferlegt werden.

 

3.6 Die Mietwagenkosten

Eine einheitliche Rechtsprechung für die Rückerstattung der Mietwagenkosten gibt es nach wie vor nicht. Einige Gerichte verlangen für die Übernahme der Mietwagenkosten den Nachweis, dass die geschädigte Person aus beruflichen oder privaten Gründen auf einen Mietwagen angewiesen war. Meistens überprüfen die Gerichte die Schadensminderungspflicht des geschädigten, der darauf zu achten hat, die Dauer der Inanspruchnahme des Mietwagens der Dauer der instandsetzung des Unfallfahrzeuges anzupassen.

Oftmals werden die ersparten Eigenkosten des Unfallfahrzeuges zwischen 10 und 20% von den Mietwagenkosten abgezogen. Außergerichtlich gibt es erhebliche Kürzungen der Mietwagenkosten, so dass immer den geschädigten Personen angeraten wird, vor Inanspruchnahme eines Mietwagens die Gegenpartei diesbezüglich zu unterrichten.

 

3.7 Kleidungskosten und beschädigtes Gepäck

Sehr schwierig und in manchen Fällen fast unmöglich ist der Nachweis, dass Gegenstände, die sich im Fahrzeug befanden, beschädigt wurden oder abhandengekommen sind. Das Gleiche gilt für die beschädigte Kleidung der Unfallopfer.

Generell wird die Forderung auch um einen Abnutzungsanteil gekürzt, d.h. den Unterschied zwischen dem Neuwert und dem Zeitwert der Gegenstände und der Kleidung.

Da in den meisten Fällen nicht alle Schadensbelege vorhanden sind, gewähren die Versicherungsgesellschaften und auch die Gerichte eine Pauschalvergütung zwischen 100,00 € und 375,00 € pro Schadensfall.

 

3.8 Die Verwaltungskosten

Für den Aufwand der Schadensabwicklung gewähren seit Kurzem die Gerichte zwischen 62,00 € und 125,00 € Schadenersatz, u.a. für die Korrespondenzkosten, Telefonkosten, usw.

Bei einer schnellen und unkomplizierten Schadensabwicklung wird diese Pauschale nicht gewährt.

 

3.9 Die übrigen Unkosten

Alle sonstigen Kosten, wie z.B. die unterstellkosten des Fahrzeuges, die Abschleppkosten, die Kosten der An- und Abmeldung beim Straßenverkehrsamt, die TÜV-Kosten usw. werden nach Vorlage der entsprechenden Belege und Rechnungen erstattet.

Fahrtkosten werden mit 0,25 € pro Kilometer vergütet, wobei es der geschädigten Person obliegt, den Nachweis dieser Fahrten zu erbringen (z.B. Fahrten zu den Gutachterterminen, Arzttermine usw.)

 


[1] AUTOR

Ralph LENTZ, Rechtsanwalt

Belgien, 4700 EUPEN, Aachener Strasse 70

 

www.lentz-rechtsanwalt.be

Email: lentzralph@lentz-rechtsanwalt.be

Tel.: 0032(0)87-74.49.87 • Fax: 0032(0)87-74.49.13


 

Veröffentlichungen des gleichen Autors in

DAR, August 2003, S. 347: „Straßenverkehrsangelegenheiten in BELGIEN“

SVR 8/2008, S. 317: „Die Erstattungsfähigkeit der Rechtsanwaltshonorare in BELGIEN

DAR, Oktober 2009, S. 606: „Personenschadenersatz in BELGIEN

DAR 5/2015, S. 248, S.248: „Unfallschadensrecht in Belgien

SVR, 2005, S. 201: Das belgische Schadenersatzrecht bei Verkehrsunfällen

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